Und wieder gab es ihn, den tragischen Vorfall: Hund verbeißt sich im Kopf eines Kleinkindes! Eine äußerst dramatische Situation für alle Beteiligten, die ich hier an dieser Stelle gar nicht weiter kommentieren oder zur Diskussion stellen möchte. Das tun schon diverse Medien und soziale Netzwerke - mehr oder weniger sinnbefreit, ahnungs- und empathielos die Kommentare der selbst ernannten Fachleute und Hobby-Analytiker unter den jeweiligen Artikeln. Fokussiert man sich jedoch einmal ausnahmslos auf das Verhalten des Hundes, so wird eine Sache hier ganz deutlich, nämlich der Unterschied zwischen Gehorsam und guter Sozialisation. Natürlich schließt das eine das andere nicht aus. Soll es nicht, und kann es auch gar nicht. Aaaaaaaber:
Es nutzt NICHTS, dem Hund ausschließlich ein (vermeintlich) perfektes "Sitz", "Platz" und "Fuß" beizubringen.
Es nutzt NICHTS, wenn der Hund im 90 Grad-Winkel 4,75 Zentimeter neben dem linken Knie des Halters herläuft, den an der Hüfte des Halters befestigten Leckerlibeutel anhimmelt und sich dabei die Halswirbel so dermaßen verrenkt, dass sich der Physio im Nachbarort in Erwartung neuer Kundschaft bereits die Hände reibt.
Es nutzt NICHTS, den Hund 24/7 ausschließlich über Unterordnung zu "deckeln".
Es nutzt NICHTS, den Hund einmal pro Woche über den Agilityparcours zu hetzen und dabei zu versäumen, ihm zusätzlich auch das "hündische Einmaleins" beizubringen.
Es nutzt NICHTS, mit prall gefüllten Leckerlibeuteln um die Gunst des Hundes zu buhlen.
All das bringt überhaupt nichts, wenn der Hund nicht gut sozialisiert ist und demzufolge gelernt hat mit gewissen Umweltreizen und Verleitungen umzugehen!
Für eine gute Mensch-Hund-Beziehung braucht es so viel mehr: Authentizität, Souveränität, Führung, Struktur... Hunde, die heutzutage gemeinsam mit uns in unseren Familien leben, brauchen kein 08/15-Training ausschließlich basierend auf Unterordnung und Gehorsam. Meiner Meinung nach bedarf es einer Änderung des Menschen in Richtung hundgerechter und hundverständlicher Führung. Denn dann ändert sich auch die innere Haltung des Hundes zu seinem Menschen. Emotionen lassen sich nicht wegkeksen oder wegkommandieren. Verhalten und Emotionen müssen hinterfragt werden, und gegebenenfalls müssen auch gesundheitliche Aspekte als Wesentliches und Ursächliches für (vermeintliches) Fehlverhalten in Betracht gezogen werden.
Seit 15 Jahren arbeite ich nun mit Hunden und ihren Menschen, und der Leitsatz meiner Arbeit, nämlich "Arbeite nicht am Symptom, sondern ergründe die Ursache", ist aktueller denn je. Und erst dann, wenn Hundehalter sich hierfür öffnen, und zwar mit all der Offenheit, Verletzlichkeit und Stärke, die das im Kern bedeutet, haben Hund und Mensch die Chance auf ein stressfreies und harmonisches Miteinander.
Perfektion? Langweilig! Team-Bildung unter Berücksichtigung ganzheitlicher Aspekte? Unbedingt!
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